STATEMENTS
Die Mitglieder des Fördervereins Theaterdokumentation e.V. und alle am Thema Interessierte wie Theaterschaffende, DokumentationsherstellerInnen, ForscherInnen, WissenschaftlerInnen, Medienschaffende, ArchivarInnen und TheaterzuschauerInnen sind zum Erfahrungsaustausch über die Zukunft von Inszenierungs- und Theaterdokumentationen eingeladen.
Was bedeuten für Sie Inszenierungsdokumentationen?
Was sind für Sie die drängendsten Fragen deren Zukunft betreffend?
„Was ist das: Inszenierungsdokumentation?“
Text von Peter Ullrich aus dem Jahr 1999 als pdf
Bitte senden Sie Ihr Statement samt Kurzbiografie an:
kontakt@theaterdokumentation.de
Statements von Mitgliedern sowie Gästen
Welche Bedeutung haben für Sie Inszenierungsdokumentationen?
Schauspielkunst, Zuschaukunst, Kunst der Dokumentation
Meine erste Begegnung mit Theaterdokumentationen hatte ich 1954. Ich bekam den Text-Bild-Band „Theaterarbeit. 6 Aufführungen des Berliner Ensembles“ geschenkt, der 1952 beim VVV Dresdner Verlag erschienen war. Mit diesem Geschenk hatte ich Glück. Ich lernte – tief im Westen – „Modell“-Aufführungen aus Berlin-Ost kennen, die ich in natura nicht hätte sehen können. Als begeisterte Theaterbesucherin beschäftigte ich mich mit dem Buch unter dem Aspekt: was ist eigentlich Theater und wie funktioniert es. So lernte ich zugleich Aufführungs- und Theaterdokumentationen kennen, die damals etwas Neues und Maßstabsetzendes waren. Es war eine frühe Begegnung mit einem zukünftigen Standardwerk. Aber das wusste ich noch nicht (zu würdigen).
Erstaunlich fand ich den Satz: „Es gilt, zwei Künste zu entwickeln: die Schauspielkunst und die Zuschaukunst“, den Brecht eigens für diesen Band formuliert hatte. Ich war der gängigen Meinung: Zugucken kann jeder, das ist keine Kunst. In dem Band gibt es keine Regeln oder Rezepte fürs Zuschauen, aber trotzdem und eben deshalb sind die ästhetischen Bildungseffekte nicht zu unterschätzen. Im Verlauf der Lektüre guckte ich etwas genauer, was ich auf der Bühne sah und hörte, begriff es etwas besser und urteilte etwas sachkundiger. Auch später, ob beim Studium der Theaterwissenschaft, bei der dramaturgischen Arbeit am Theater oder bei der Herstellung von Inszenierungsdokumentationen, war mir der Band von Nutzen. Die Texte regten an, kritisch weiter zu denken.
Mir scheint, der wesentliche Beitrag dieser frühen Dokumentation-Sammlung zur Entwicklung von Theater- und zugleich von Zuschaukunst besteht vor allem in der Auswahl der Inszenierungen und in den Dokumentationsmethoden. Das Berliner Ensemble machte die eigene Theaterarbeit zu einem Forschungsobjekt. Prägnanten Beschreibungen der Inszenierungen folgten Beiträge, die von MitarbeiterInnen aus unterschiedlichen Bereichen des Theaters verfasst wurden. So wird ohne theoretische Erklärung deutlich, dass es sich um eine kollektive Kunst handelt. Diese Einzeldarstellungen liefern Ergebnisse und Erfahrungen, verlieren aber nie den Gestus des Entdeckens, Ausprobierens, Analysierens und des Genusses an der Arbeit sowie das potentielle Publikum aus dem Blick. Theateraufführungen sind bekanntlich lebendige Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum. Das Niveau dieser Kommunikation wird erheblich von den Inhalten, der Schauspielkunst und der Zuschaukunst bestimmt.
Ich habe viel aus den Beiträgen gelernt, in denen Inszenierungskonzeptionen und Rollengestaltungen des BE mit denen anderer Theater verglichen wurden, Ursachen für Differenzen benannt und auf reale, erwartbare oder mögliche Wirkungsunterschiede aufmerksam gemacht wurde. Genau genommen sind alle Buchbeiträge Resultate der Kunst der sozialen und ästhetischen Beobachtung und der Kunst der lebendigen und analytischen Beschreibung.
„Theaterarbeit“ entstand in der konfliktgeladenen Zeit, die Nachkrieg, Kalter Krieg und Aufbruch zugleich war. Nur das BE war in der Lage und konnte es sich leisten, so einen prächtigen Arbeitsband herauszubringen. Jetzt – 70 Jahre später- ist manches nicht ‚modern‘, aber mit dem Buch wurden Grundlagen gelegt. Ein bisschen neugieriges back to the roots schadet nie. //
Prof. em. Dr. Renate Ullrich, Mitglied, Herbst 2021
Welche Bedeutung haben für Sie Inszenierungsdokumentationen?
„Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“. Dem fleißigen Dramaturgen vielleicht schon? Höchstens, wenn er die Früchte seiner Fleißarbeit der Mit- und Nachwelt zugänglich machen kann. Aber wie? Als Hospitantin wurde ich 1979 erstmals von Christoph Schroth auf die Dokumentation der „Katzgraben“-Inszenierung von Benno Besson aufmerksam gemacht. Dafür bin ich ihm heute noch dankbar. Ich lernte dadurch im ersten Studienjahr in Berlin die Sammlung des Theaterverbandes kennen, es war der Sesam-öffne-dich-Moment, der mir die Theaterwelt von innen erschloss.
Es gab und gibt Dokumentationsmappen ganz unterschiedlicher Dicke und Qualität, manche von vergilbenden Schreibmaschinenseiten überschwemmt, andere bilderreich mit kargen Erläuterungen. Mich interessierten besonders die schwatzhaften, z.B. die langen Protokolle von ausufernden Konzeptionsgesprächen und Probennotate, denn diese ließen einen Blick in die Werkstatt zu, der nur wenigen vergönnt, aber eigentlich unabdingbar wichtig ist, wenn man das Handwerk lernen möchte.
Brecht und Felsenstein waren sicherlich die geistigen Anstifter, indem sie ihre Mitarbeiter ermutigten, viel aufzuschreiben, um ihre Inszenierungsmethoden weitergeben zu können, aber selbst von diesen Altmeistern ist nicht alles gedruckt und dem breiten Publikum zugänglich. Spannende Stunden verbrachte ich im Archiv zum Beispiel mit dem Lesen der Gesprächsprotokolle zur Vorbereitung des Leipziger „Rings“, ein Jahrhundertwerk, mit dem Joachim Herz und sein Bühnenbildner Rudolf Heinrich Operngeschichte geschrieben hatten. Wie bedeutend diese Aufführungen gewesen sein müssen, wusste ich damals zwar gar nicht, aber für mich war es ungeheuer anregend, den Analysen und Visionen des Regieteams zu folgen, ihre Gedankengänge nachzuvollziehen und mit anderen Quellen und meinen eigenen ästhetischen Vorstellungen zu vergleichen. Arbeiten von Ruth Berghaus und Frank Castorf lernte ich auf diese Weise kennen, selbst wenn es mir unmöglich war, die Aufführungen zu besuchen, weil sie entweder im Ausland stattfanden oder überstürzt abgesetzt wurden.
1983 ermunterte mich Konstanze Meyerhofer, selbst Inszenierungsdokumentationen anzufertigen, zunächst in meinem letzten Studienjahr als Hospitantin bei Peter Konwitschnys „Freischütz“ später als Dramaturgin auch von anderen Regisseurinnen und Regisseuren. Meine Hoffnung dabei war, junge Theaterschaffende genauso zu ermutigen, wie mich einst die Zeugnisse der Kopfzerbrecherei älterer Regieteams ermutigt hatten.
In einer guten Sammlung von Inszenierungsdokumentationen sehe ich für die Zukunft unendliche Möglichkeiten. Da wäre der unstrittige pädagogische Effekt für kommende Generationen in Dramaturgie, Regie, Szenographie, Choreographie und vielleicht sogar für SängerInnen und SchauspielerInnen, wenn selbige sich nur die Mühe machen wollten, in die Schatzkammern des Archivs hineinzuschauen. Da gibt es den enormen Gewinn für DoktorandInnen und ForscherInnen, die hier immer wieder ihr Material für die Beantwortung immer neuer Fragen finden werden. Und drittens wird es wahrscheinlich auf lange Sicht auch ein unschätzbares Zeitzeugenmaterial sein für Kultur, Politik und Soziologie demnächst vergangener Epochen. Dabei bin ich überzeugt, dass der digitale Fortschritt die Sammlung mitnichten obsolet macht. Ich höre von vielen KollegInnen, auch von jüngeren, dass Videoaufzeichnungen nichts weiter als eine Ergänzung zu den Sammlungen von Texten, Fotos und Interviews sein können. Die digital bewegten Bilder werden, um noch einmal Schillers Wallenstein-Prolog zu zitieren, genauso „schnell und spurlos an dem Sinn vorübergehen“ wie die lebendige Kunst des Mimen, während wir aber in den gesammelten Inszenierungsdokumentationen etwas haben, aus dem wir uns wie bei einem Puzzle die Teile selbst zusammensetzen müssen. Da kann man Details nachlesen, die vielleicht in den Aufführungen verschwunden sind, Wege und Irrwege nachvollziehen, Erfolge und Scheitern miterleben. Dafür muss das Dokumentieren nicht nur im Sammeln sondern auch im Kommentieren und Sortieren bestehen. Dies macht Arbeit, die finanziell wenig oder nichts einbringt und daher viel ehrenamtlich getan werden muss, aber das macht sie nicht wertlos, denn es ist im Gegenteil eine lohnende Arbeit. Ebenso wie das Nachlesen und gründliche Studium des dokumentierten Materials durch zukünftige Nutzergenerationen auch Arbeit machen wird. Aber auch diese Mühe wird sich lohnen, denn nur so kann jedes Mal etwas Bleibendes in unseren Köpfen entstehen. //
Bettina Bartz, stellvertretende Vorstandsvorsitzende, August 2021
Was bedeuten für Sie Inszenierungsdokumentationen?
Für jeden, der sich mit der historischen oder auch aktuellen Aufführungspraxis im Theater beschäftigt, ist der Moment, wo man ein originales Regiebuch in Händen hält, besonders spannend. Spätestens beim intensiven Durchblättern, v.a. wenn man daneben die womöglich existierenden Aufführungsfotos legt und versucht sie den jeweiligen Stellen im Regiebuch zuzuordnen, wird man von der Sehnsucht gepackt, an dem Probenprozess teilzunehmen. Temps perdu – auch eine Aufzeichnung, und sei sie noch so gelungen (es gibt da hervorragende Beispiele!), wird dieses Präsenzerlebnis einer Probe oder einer Aufführung nicht wiederholen und nicht wieder holen können! Jeder im Theater weiß das und spielt damit – die Unwiederholbarkeit auch in der Wiederholung! Inszenierungsdokumentationen gelingt es manchmal, diesen einmaligen Moment für die (gedachte) Ewigkeit festzuhalten, in dem sie den Entstehungsprozess festhält.
Und noch etwas – es ist die alte Frage nach der Auswahl: jede Inszenierung von Max Reinhardt, Erwin Piscator, Bertolt Brecht, Fritz Kortner, Gustaf Gründgens, Peter Zadek, Peter Stein? Wir hätten daran ablesen können, wie die jeweiligen Kunstwerke entstanden, welche Mittel die Regisseure (es sind alles Männer!) anwandten. Oder doch lieber die Inszenierungen der ZeitgenossInnen dazu nehmen? Wir hätten dann ablesen können, was das andere, das besondere an den oben genannten Künstlern ist, worin sie sich unterschieden zu ihren ZeitgenossInnen.
Welche Frage ist für sie die drängendste bezüglich der Zukunft der Inszenierungsdokumentationen?
Tempora mutantur et nos mutamur in illis – die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen: das trifft den Zustand des Theaters der Gegenwart ziemlich genau. Beschäftigt man sich beispielsweise mit der Zusammenarbeit des Dramatikers Heiner Müller mit dem Bühnenbildner Erich Wonder (zu der es vom 16.1. bis 13.3.2022 eine Ausstellung in der Akademie der Künste am Pariser Platz gab), drei von den vier Inszenierungen sind durch Inszenierungsdokumentationen mustergültig erschlossen, können wir eintauchen in eine Inszenierungstradition, die in den 1970er bis 1990er Jahren als avantgardistisch galt – und heute? Schon Frank Castorf hat mit seinen Volksbühnen-Inszenierungen diese Tradition hinter sich gelassen. Seit 2020 rückt das sogenannte digitale Theater pandemiebedingt in den Fokus, das in manchen Häusern bereits als zusätzliche Sparte geführt wird. Wir versuchen mit unserem Dokumentationsprojekt „Theater in der Pandemie“ darauf zu reagieren. Aber ist das noch Theater – als präsente Kunst, von der nur die Produktionsreste bleiben, aber das Kunstwerk selber nicht – was einmal digital ist, kann immer wieder reloaded werden! Was ist mit Performances, ein Zwitter zwischen Bildender und Darstellender Kunst. Wie lässt sich Tanz, freier wie klassischer adäquat dokumentieren? Neue digitale Hilfsmittel eröffnen ganz andere Möglichkeiten der Kommentierung und Erläuterung von Bewegtbild. Also zum einen wird die Abgrenzungsfrage: „was ist eigentlich Theater?“ (= wovon sprechen wir, wenn wir von Theater sprechen?) wichtig bleiben. Zum anderen werden technische Neuerungen die Dokumentationspraxis gravierend verändern. //
Stephan Dörschel, Leiter des Archivs Darstellende Kunst der Akademie der Künste bis 2025, Januar 2022
Warum und wieso ist die Beschäftigung mit Inszenierungsdokumentationen im Ausbildungsprozess für Regiestudierende und für Theaterwissenschaftsstudierende nützlich?
Inszenierungsdokumentationen können im Idealfall einen Über- und Einblick in die Inszenierungsarbeit von der Idee über den Entwurf zur praktischen Erprobung bis hin zum veröffentlichten Werk (Aufführung) geben. Wie dieser durchgängig kooperativ verlaufende Arbeitsprozess von der Regie organisiert und geleitet, vom Spielensemble mitbestimmt, befördert und verändert und/oder aber ertragen und erlitten wird, um bestenfalls von allen Beteiligten verantwortet zu werden in der Aufführung, sollte in seiner dynamischen Komplexität anhand von Inszenierungsdokumentationen nachvollzogen werden können.
Werden die Dokumentationen dem gerecht, halten sie neben den theaterästhetisch relevanten Ergebnissen der Probenarbeit auch die Kooperationsvorgänge und Kommunikationsformen des Probierens, den alltäglichen Arbeitsverlauf fest; werden sie zu Elementen der Kritik an den gegebenen Proben- und Arbeitsbedingungen; legen sie die vielfältigen Zwänge des Produktionssystems und seiner Agenten auf die künstlerische kollektive Arbeit bloß. Die Dokumentationen werden zum Ausweis der aktuellen Erscheinungen des grundlegenden Widerspruchs, der in jeder institutionalisierten Theaterarbeit in unserer Gesellschaft zwischen Lohnarbeit und freier künstlerischer Tätigkeit, zwischen individuellem Wollen und notwendiger gemeinschaftlicher Anpassung wirkt.
Diese aus den Dokumentationen zu schöpfenden Erfahrungen sind schon deshalb unverzichtbar für die Studierenden, weil sie selbst niemals den gesamten Erarbeitungsprozess einer Inszenierung praktisch miterleben können. //
Thomas Wieck, Mitglied, Herbst 2021
Welche Bedeutung haben für Sie Inszenierungsdokumentationen?
Für die meisten Menschen offenbart sich im Theater das Ergebnis eines Prozesses, der für die Allgemeinheit in der Regel ein Buch mit sieben Siegeln bleibt. Das, was Theater abbildet auf der Bühne, soll das Publikum inspirieren und nachdenklich machen, sogar spiegeln und den Menschen die Welt aus einer Perspektive schildern, die sie so im normalen Leben selten wahrnehmen. Wie ein solcher Spiegel entsteht und der Prozess des Transformierens von Wahrheiten von Statten geht, verschwindet, so wir es nicht festzuhalten versuchen. Dabei finden vor allem im Entstehen der Inszenierungen die großen Fragen nach Sinn, Gesellschaft und Menschsein statt. Jede Zeit hat ihre Themen, auch ihre Vorgänge, ihren Fokus, ihre Machtstrukturen, ihre Formensprache und ihre Zeichen. Es ist, will man Zeit und Menschen verstehen, absolut relevant, was beim Entstehen eines Werkkosmos für die Bühne gesagt, gedacht und abgebildet wird. Es erzählt uns nicht nur das Oberflächliche, das sofort Sichtbare. Es erzählt uns auch etwas über das Verborgene einer Zeit. Das Tempo einer Generation. Den Rhythmus einer Gesellschaft. Das Denken über uns selbst.
Das Dokumentieren, also das Aufzeichnen der Gedanken und Probenprozesse, hält sowohl die Arbeitsweise eines Regisseurs oder Ensembles fest – was für Lehrzwecke ungeheuer wertvoll ist. Es hält aber gleichzeitig ein Zeitgefühl, ein Zeitdenken fest. Dies sind einzigartige historische Zeugnisse. Zudem ist es theatergeschichtlich absolut notwendig, diese Entstehungsprozesse dokumentiert zu haben. Denn anhand von Aufführungsmitschnitten, Vorstellungs- oder Pressefotos können lediglich Ästhetik und Bildsprache bewahrt werden, aber nicht die Denkprozesse und die Art des miteinander Wirkens während des künstlerischen Prozesses.
Ich erinnere mich gut an die Pina Bausch Ausstellung im Gropiusbau. Zeugnisse ihrer Arbeiten; Entstehungen ihrer Choreografien auf dem Papier; Notizen auf gelben Zetteln über die Bilder, die sie erreichen wollte. Ich denke auch an meine Interviews mit Arila Siegert, ihre Skizzen im Klavierauszug, ihre Ausführungen des eigenen „Kopfkinos“. Auch erinnere ich mich an Vor- und Nachgespräche mit Claus Guth zu „Salome“ – was wollte er, wie hat er es erlebt, hat er die Bilder erschaffen, die er wollte und wie hat er dies gelenkt? Das alles ist aufgeschrieben, aufgenommen, aufgezeichnet und in eigener Sprache kommentiert oder einfach gebannt und festgehalten. Als Beobachterin beschreibe ich in der Dokumentation etwas, was allen, die nicht direkt am Entstehen beteiligt sind, nie zugänglich wäre. Das ist einzigartiges Denk- und Arbeitszeugnis, was pädagogisch, historisch, politisch, kulturell, soziologisch und menschlich einen unschätzbaren Wert hat. //
Susanne Knapp, Beisitzerin, September 2021
Welche Bedeutung haben für Sie Inszenierungsdokumentationen?
Im Jahr 2010 kam ich durch Zufall zu der Aufgabe, die Probenarbeit von Dimiter Gotscheff an seiner Inszenierung „Krankenzimmer Nr. 6“ nach Anton Tschechow am Deutschen Theater Berlin anhand von Probenprotokollen zu dokumentieren. Ein Kaltstart war das damals im Berliner Winter, dem kältesten meines Lebens mit minus 20 Grad Außentemperatur. Die Beispiele von Inszenierungsdokumentationen, die ich mir im geheizten Lesesaal des Archivs Darstellende Kunst der Akademie der Künste anschaute, gaben eine ungefähre Ahnung davon, worum es bei den Protokollen gehen könnte. Aus der gedacht einmaligen Tätigkeit des Dokumentierens ist im Rückblick betrachtet ein Berufsweg geworden. Probendokumentation wurde zu meinem Thema in der Magisterarbeit und später auch in meiner Dissertation „Die Dokumentation von Theaterproben. Eine interdisziplinäre Methodenreflexion“.
Inszenierungsdokumentationen haben für mich daher zuallererst eine sehr persönliche Bedeutung. Sie stehen für die unvergessliche Zeit der Zusammenarbeit mit Gotscheff und seinem Rudel Schauspieler. Sie stehen aber auch für eine sehr intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Thema, das es aus Mangel einer elaborierten Methodik zu erschreiben galt. Nicht zuletzt stehen sie für mein jetziges Berufsverständnis als Dramaturg. Denn im Schauspiel, in der Oper oder im Tanz gehören, meiner Erfahrung nach, das Hinschauen, das Zuhören und das Beschreiben zu den Hauptaufgaben dieser Tätigkeit zwischen Kreation und Vermittlung. Das Anfertigen von und die Beschäftigung mit Inszenierungsdokumentationen hat meine Arbeit als Theaterwissenschaftler und Dramaturg somit entscheidend geprägt und geschult. Ich kann daher TheaterwissenschaftlerInnen und Theaterpraktizierenden, aber auch jedem anderen kulturinteressierten Menschen die Auseinandersetzung mit Inszenierungsdokumentationen sehr ans Herz legen. Gerade an der Schnittstelle der Institutionen Theater, Universität und Archiv bereiten sie die Grundlage für einen gemeinsamen Diskurs. Im besten Falle ist dieser Diskurs ein wechselseitiger zwischen Theorie und Praxis, der sich in der Gesellschaft verortet. Der in Zeiten der Kürzungen und besonders auch nach der erfahrenen Fragilität von Kultur im Zusammenhang der Covid-19-Pandemie die Relevanz eines ganzen Berufszweigs verdeutlicht, in dem er Einblicke in dessen Arbeitsrealität gibt. Inszenierungsdokumentationen könnten so für die Welt der flüchtigen Kunstformen der Bühne auf vielen verschiedenen Ebenen neue Bretter bedeuten. Von daher hoffe ich als Teil des Vorstands des Fördervereins Theaterdokumentation e.V., dass die Begeisterung für eine zukünftige Arbeit an Inszenierungsdokumentationen durch eine Auseinandersetzung mit der bisherigen geweckt wird und ich viele Interessierte bei diesem Vorhaben unterstützen kann. //
Dr. des. Lucas Herrmann, Beisitzer, Dezember 2021
Was bedeuten für Sie Inszenierungsdokumentationen? Was sind für Sie die drängendsten Fragen deren Zukunft betreffend?
Vor Jahren suchte ich nach Quellen zu Einar Schleefs Inszenierung „Salome“, weil diese bekanntlich mit einem langen stummen Tableau Vivant begann, das die Zuschauer regelmäßig in Rage versetzte. Im Schleef-Nachlass des Akademie-Archivs fand ich zwar nichts zu diesem Tableau. Dafür aber ein Videoband mit der Aufschrift „Konversationsprobe 3/1997“. Es handelt sich dabei um die 88-minütige Aufzeichnung einer Sprechprobe dieser Inszenierung im Frühsommer, bei der im beengten Konversationszimmer des Düsseldorfer Schauspielhauses das Regieteam, die DarstellerInnen und der Chor gemeinsam durch eine dramatische, zuweilen hochkomische Krisensituation gehen, an deren Ende eine großartige, komplexe Dialogszene steht. Mehr als durch ein Foto oder einen Stücktext wird durch diese Aufzeichnung die Arbeitsweise des Theatermachers Einar Schleef und der Beteiligten anschaulich. Das Video macht den Verlauf des Spielens, Scheiterns und Neuprobierens deutlich, allerdings offenbart es sich auch als lückenhafte Archivalie. Um sie zu ‚lesen‘, bedurfte ich zahlreicher weiterer Quellen, die dem Gesehenen manchmal auch widersprachen oder meine Fragen nicht beantworteten. Der Wert des Dokuments lag eindeutig darin, dass es die eigentliche Theaterarbeit erfasste und nicht nur deren Ergebnis. Erst eine solche Perspektive auf die Produktionsprozesse ermöglicht ein tiefes Verständnis der Darstellenden Künste. In der Gründung der Sammlung Inszenierungsdokumentation drückt sich dieses Anliegen aus: nicht nur Werke, sondern deren Entstehungsprozesse festzuhalten und die darin verarbeiteten Fragen und Lösungswege transparent zu machen. Mit dem zunehmenden Interesse an Proben und Inszenierungsvorgängen tauchen auch in der Theaterwissenschaft neue und grundsätzliche Fragen auf, die das Verhältnis von Theater und Wissenschaft, aber auch das von Prozess und Dokument, Beteiligung und Beobachtung oder Zeitlichkeit und Stillstellung betreffen. Im kursorischen Überblick möchte ich vier Themenbereiche nennen:
- ETHIK DES DOKUMENTIERENS Damit verknüpft sich die simple Frage: Warum soll dieser Praxisprozess dokumentiert werden? Welche Form wäre dafür adäquat? Wer bin ich selbst als Beobachtende oder Beobachtete in diesem Prozess? Im Kern geht es dabei um die Verantwortung aber auch die Schwierigkeit, die jeder Zeugenschaft innewohnt.
- 2. METHODIK DES DOKUMENTIERENS Mit der mittlerweile etablierten Kritik am Objektivitätsbegriff zeigt sich, dass die Frage „Wie dokumentieren?“ nicht durch eine richtige oder falsche Art zu beantworten ist. Eingedenk Nietzsches Diktum „Das Werkzeug schreibt mit an unseren Gedanken“ ist schon die Entscheidung für oder gegen bestimmte technische Medien (Stift, Kamera, Video) weitreichend. Dazu gehört auch die grundsätzliche Frage: Was wird als Probenarbeit verstanden? Wie lässt sich kollektives Arbeiten erfassen, beschreiben und auswerten? Und auf welche Weise können die gesellschaftlichen Umstände, der „Zeitgeist“ oder die historische Konstellation ebendieser künstlerischen Arbeit reflektiert werden?
- 3. ÄSTHETIK UND EPISTEMOLOGIE DES DOKUMENTIERENS Schon an Brechts Modellbüchern lässt sich nachvollziehen, dass Probendokumente nicht nur Wissensspeicher und Erkenntnisinstrumente sind, sondern selbst künstlerische Qualität haben können. Dokumentieren ist selbst eine ästhetische Praxis, und das Herstellen von Fotografien, Filmen, Audiodateien oder Texten schafft zeichenhafte Formen, die zueinander in Beziehung gesetzt und interpretiert werden müssen.
- 4. KANONISIERUNG DURCH DOKUMENTIEREN Wenn von über dreitausend jährlich in Deutschland entstehenden Inszenierungen gerade zehn Eingang in die „Sammlung Inszenierungsdokumentation“ des Akademie-Archivs finden, so zeigt sich, wie stark Dokumentationen mit der Frage der Kanonisierung verknüpft sind. Welchen Effekt hat es, wenn Tanz, Performance oder Arbeiten der Freien Szene ausgeschlossen bleiben? Und wie können neue Archivplattformen geschaffen werden, um von der flüchtigen Kunst des Theaters Spuren zu hinterlassen, die noch kommende Generationen zu begeistern vermögen?
Prof. Dr. Barbara Gronau, Mitglied, Januar 2022
Was bedeuten für Sie Inszenierungsdokumentationen?
Von besonderem Interesse waren für mich Probendokumente, die Einblick in den kreativen Prozess geben (alle vorhanden in der Sammlung Inszenierungsdokumentationen im Archiv der Akademie der Künste Berlin):
- Protokolle zur Regiemethode Frank Castorfs, notiert von Ralph Reichel bei der Produktion „Das trunkene Schiff“ von Paul Zech/Volksbühne Berlin 1988;
- Zeitdokumente des gesellschaftlichen Umbruchs in der DDR 1989/90 während der Proben zu William Shakespeare/Heiner Müller „Hamlet/Maschine“, Regie Heiner Müller am Deutschen Theater Berlin, dokumentiert von Stephan Suschke,
- Dokumente über die Zensur und das Verbot der Inszenierung „Der Revisor oder Die Katze aus dem Sack“ von Jürgen Groß, inszeniert von Wilfried Mattukat am Hans-Otto-Theater Potsdam 1989, dokumentiert von Michal Phillips.
Für die zukünftige Erarbeitung von Inszenierungsdokumentationen kann der einzigartige Wert dieser Methode nur immer wieder hervorgehoben werden. Sie sind eine Fundgrube für die Theaterpraxis, für die Theaterwissenschaft und für die Theatergeschichte. //
Henriette Kuzior, Mitglied, Dezember 2021